Auch dem Eisenbahn-Laien wird einleuchten, dass der Idealzustand auf den Zulaufstrecken zu zentral gelegenen Großstadtbahnhöfen darin besteht, den drei verschieden schnellen sowie verschieden häufig abbremsenden und anhaltenden Personenzuggattungen ICE/EC/IC, IRE/RE/RB und S-Bahn jeweils ein eigenes Gleispaar für die Stadteinwärts- und die Stadtauswärtspassage zur Verfügung zu stellen.
Dann müssen Schnellzüge wie der ICE nicht mehr auf demselben Gleis in den bahntypisch großen Sicherheitsabständen etwaig verspäteten Regionalzügen hinterher bummeln, und der Regionalexpress wird nicht mehr von einer vor ihm auf demselben Gleis fahrenden S-Bahn aufgehalten, die alle paar Kilometer schon wieder vor dem nächsten Bahnhalt abzubremsen beginnt. Derzeit bietet der Stuttgarter Kopfbahnhof jedoch sowohl auf seinen Zulaufstrecken nach Norden wie auch nach Süden nur je 2 Gleispaare für diese 3 unterschiedlichen Zugverkehrsgattungen an.
© Klaus Gebhard
Nur 2 Gleispaare für 3 Zuggattungen: Die im Mischverkehr befahrenen heutigen 4 Gleise von S-Hbf nach Bad Cannstatt.
Auf obigem Bild sind die insgesamt 4 Gleise von S-Hbf nach Bad Cannstatt zu sehen, die sich ICEs mit Regionalexpressen sowie S-Bahnen teilen müssen. Der 4,5 km lange Gleiskorridor nach Bad Cannstatt wird auf dem Foto rechts von der Platanenallee des Unteren Schlossgartens begrenzt, und links der Gleise ragt die hohe Außenmauer des darüber liegenden Bahnbetriebswerks und Abstellbahnhofs Rosenstein auf.
Böschung statt Betonwand. Wie im Kapitel 4 über die städtebaulichen Entwicklungsmöglichkeiten bereits gezeigt und erläutert, schlägt die Arbeitsgruppe im Zuge des Projekts „Umstieg 21“ vor, die Abstellbahnhofsfläche aus Stadtklimaschutzgründen nicht zu überbauen, sondern den Abstellbahnhof um rund die Hälfte zu verkleinern, um dort – im Prinzip schon ab morgen beginnbar – den Rosensteinpark zusätzlich zur Parkerweiterung in der Innenstadt um die Fläche der für den täglichen Bahnbetrieb nicht mehr benötigten Abstellgleisflächen zu erweitern. Mit anderen Worten: Die hässliche hohe, von den Platanen gnädig vor den Augen der Parkspaziergänger abgeschirmte heutige Betonfront könnte um die Breite für die zusätzlichen zwei S-Bahn-Gleise zurückgebaut und anschließend mittels einer steilen aber naturnahen Hangböschung in den darüber liegenden erweiterten Rosensteinpark organisch überführt werden.
© Klaus Gebhard
Keine Zierde: Die 1,5 km lange Betonwand des 2 Etagen höher liegenden, heutzutage überdimensionierten Rosenstein-Abstellbahnhofs. Dank des Umstieg21-Konzepts kann sie gut 10 Jahre früher als bei Beharren auf Stuttgart 21 abgerissen und durch eine zurückgesetzte, ökologisch wertvolle Steilhangböschung zum oben sofort erweiterbaren Rosensteinpark ersetzt werden.
Wie gelangen das 5. und 6. Gleis durch den Rosensteinpark mit seinem krönenden Schloss und über den Neckar nach Bad Cannstatt? Die bis hierher vier existierenden Gleise schlupfen ja durch den 300 m langen, 4-gleisigen heutigen Rosensteintunnel unter dem Rosensteinpark hindurch und führen sodann über die ebenfalls 4-gleisige König-Karls-Eisenbahnbrücke über den Neckar hinüber zum 8-gleisigen Cannstatter Bahnhof. Die sich anbietende kostengünstigste und zugleich am wenigsten Natureingriffe erfordernde Lösung ist am besten aus Cannstatter Blickrichtung zu erkennen.
© Manfred Grohe, Klaus Gebhard
Das fehlende 3. Gleispaar von und nach Cannstatt kann parkbäumeschonend durch den noch existierenden historischen Rosensteintunnel geführt werden.
Der historische Rosensteintunnel wird modernisiert und wieder in Betrieb genommen. Nur wenigen heutigen Stuttgartern dürfte noch bekannt sein, dass der allererste Stuttgarter Eisenbahntunnel durch den Rosenstein hundert Meter weiter nördlich direkt unter dem Schloss hindurchführte.
70 Jahre nach Einweihung des ersten Rosensteintunnels war der Zugverkehr von/nach Stuttgart so stark angewachsen, dass ein neuer 4-gleisiger Tunnel nötig wurde. Der alte Tunnel wurde 1 Jahr später stillgelegt, existiert aber bis auf den heutigen Tag. Nochmals 100 Jahre später bietet sich dieser an, die 3 S-Bahn-Linien aus dem Neckartal nach Stuttgart aufzunehmen.
Fotografie von 1878
Würde der historische Rosensteintunnel für den S-Bahn-Verkehr von und nach Bad Cannstatt wieder in Betrieb genommen, ergäbe sich ziemlich genau 100 Jahre später fast wieder derselbe Neckarblick wie auf der farbigen Postkarte oben: im Vordergrund die König-Karl-Straßenbrücke mit Straßenbahnen (heute Stadtbahnen), in der Bildmitte die heutige 4-gleisige Eisenbahnbrücke (dann nur noch für Fernverkehr), und 100m dahinter die (wiederaufzubauende) "alte"/neue 2-gleisige Neckarbrücke für S-Bahnen - natürlich mit angedocktem Fußgängersteg. Auf dem linken Schwarz-weiß-Foto ist die ansehnliche Stahlbögenbrücke im Gegenschuss vom Rosensteinschloss aus fotografiert. Welch ein Gegensatz zu der geplanten brachialen S21-Betonbrücke, siehe 3 Bilder weiter unten!
Dieser 2-gleisig angelegte Tunnel existiert noch immer, wenn auch seit langem außer Betrieb gesetzt:
© Kostas Koufogiorgos
Der viel genutzte erst 39 Jahre alte Fußgängersteg über den Neckar musste jüngst den Vorbereitungsarbeiten für die neue S21-Neckarbrücke weichen. Der 170 Jahre alte erste Rosensteintunnel hat dagegen alle Zeitläufte überdauert.
Auf obigem Foto mit Blick vom Cannstatter Neckarufer zum Rosensteinschloss ist eine mit einem Pfeil markierte dunkle Einbuchtung in der Hangvegetation direkt unterhalb des Schlosses zu erkennen. Dort befindet sich noch immer der historisch erste Rosenstein-Bahntunnel mitsamt seinem (zugemauerten) Tunnelportal. Der noch vollständig erhaltene 2-gleisige Tunnel unterquert den Rosensteinpark und das Schloss auf kürzestem Weg. Saniert und etwas verbreitert könnte er ein langes 2. Leben als S-Bahn-Tunnel wiederaufnehmen.
© Alex Schäfer
Der erste bereits 2-gleisig angelegte Rosensteintunnel stammt noch aus dem Dampflokzeitalter. Um Oberleitungen und seitliche Fluchtwege darin unterzubringen, muss er im Querschnitt aufgeweitet werden. Der bauliche Aufwand dafür ist immer noch geringer als ein kompletter Neubau – zumal dieser Tunnel den unter besonderem Naturschutz stehenden Rosensteinpark an dessen schmalster Stelle unterquert. Damit war er schon zu einer Zeit ökologisch schonend trassiert, als es diesen Begriff noch gar nicht gab
Auf dem Bild ist das Innere dieses seit 170 Jahren tapfer das Schloss Rosenstein stemmenden doppelgleisigen Tunnels zu sehen. Dessen Bau überstand das damals schon stehende Schloss unbeschadet. Lediglich der Inhalt des stadtseitig vor dem Schloss gelegenen Wasserbeckens brach damals in den im Bau befindlichen Tunnel ein. Man kann also davon ausgehen, dass es eindreiviertel Jahrhunderte später gelingen wird, den noch aus dem Dampflokzeitalter stammenden 2-gleisigen Bahntunnel für den Einbau einer Oberleitung und zweier seitlicher Fluchtwege aufzuweiten ohne dabei das Schloss zu gefährden. Gegenüber anderen Lösungen hat dieser Tunnel zwei weitere große Vorteile: Mit 360 m Länge ist er vergleichsweise kurz und über ihm gibt es keinerlei Baumriesen, die von den Aufweitungsbaumaßnahmen gefährdet werden könnten.
Schlank und kostengünstig. Da das 5. und 6. Gleis von und nach Bad Cannstatt künftig als Gleispaar für die S-Bahn genutzt werden soll, und da S-Bahn-Züge auch leichter sind und ein geringeres Lichtraumprofil haben als ICEs und REs, kann sowohl der Tunnelquerschnitt als auch die zusätzliche neue 2-gleisige Brücke über den Neckar vergleichsweise schlank gehalten werden. Im Vergleich mit der noch nicht einmal vollständig genehmigten und also noch einsparbaren neuen 4-gleisigen Stuttgart-21-Brücke über den Neckar ließe sich die nur 2-gleisige S-Bahn-Brücke ausgesprochen filigran erbauen.
Die Fußgänger profitieren. An diese wenige Meter neben der inzwischen abgebrochenen Cannstatter Holzstegbrücke zu errichtende neue S-Bahn-Brücke ließe sich selbstverständlich auch ein dringend benötigter neuer großzügiger Fußgängersteg über den Neckar andocken. Ob seitlich angebaut, darüber gesetzt oder darunter abgehängt, sollten die Nutzer, sprich: Bürger entscheiden.
© Bahnprojekt Stuttgart-Ulm – Simulation der geplanten neuen 4-gleisigen Stuttgart21-Neckarbrücke
Der Bau der brachialen neuen 4-gleisigen S21-Brücke, die den bisherigen herrlichen Rosenstein-Schlossblick regelrecht aus dem Stadtbild streicht, steht noch ganz am Anfang. D.h. auch deren Kosten können zugunsten des Umstiegskonzepts weitestgehend eingespart werden.
Die neue 4-gleisige S21-Betonbrücke sieht einen abgehängten Fußgängersteg vor. Stellt sich die Frage, ob dies wirklich eine menschengemäße Lösung ist. Denn es dürfte bei Weitem nicht jedermanns Geschmack sein, frei über dem Fluss hängend diesen zu überqueren, wenn wenige Meter über dem eigenen Kopf ICEs und alle Arten sonstiger Züge hinwegdonnern. Hingegen einen seitlichen Steg an die schlanke 2-gleisige S-Bahn-Brücke anzudocken, ist auch dank der leiser und langsamer fahrenden S-Bahnen sehr gut vorstellbar.
Kreuzungsfreie Querung auf die Nordseite. Bleibt als letzte Aufgabe, das ausschließlich für die S-Bahn reservierte neue Gleispaar entweder im Bereich des sog. „Tunnelgebirges“ oder schon vorher unter dem ohnehin neu zu ordnenden riesigen Abstellbahnhofsgelände auf die Nordseite des vom Nordbahnhof herkommenden Bahndamms zu führen. Da die Einfahrt in die S-Bahn-Stammstrecke von Hbf-tief nach Schwabstraße und weiter nach Vaihingen auf der Nordwestseite des Bahnhofsvorfelds liegt, ist eine solche unterirdische Querung nötig. Auf dem Luftbild ist eine grün-gestrichelte Querungsversion eingezeichnet. Wo genau deren tatsächlich günstigster und auch kostengünstigster Verlauf ist, müssen die Experten der Bahn ermitteln und entscheiden.
© Luftbild Manfred Grohe, Graphik Klaus Gebhard
Anliegen des Umstieg-21-Konzepts ist, Trassierungsmöglichkeiten auch für den künftig erforderlichen Netzausbau aufzuzeigen, und zwar möglichst unter Nutzung bereits vorhandener Bauwerke und Infrastruktur, damit die ökologisch sensible wie wertvolle innerstädtische Naherholungslandschaft wie auch der Steuerzahlergeldbeutel weitestgehend geschont werden. Mit der wohl überlegten und trassierten Erweiterung der Zulaufstrecken um ein fünftes und sechstes Gleis zum konkurrenzlos leistungsreservenstarken Kopfbahnhof wäre das Schienennetz im Großraum Stuttgart für viele Jahrzehnte allen Anforderungen gewachsen.
Ist der Schienenverkehr innerhalb eines Ballungsraums erst einmal leistungs- und reservenstark ausgebaut, profitiert davon direkt auch jeder Autofahrer! Wird doch mit jedem Autofahrer, der gerne auf die Bahn umsteigt, der Straßenraum bei den heute üblichen 1,1 Personen pro PKW um eine Wagenlänge freier. Voraussetzung dafür, dass es zu einer spürbaren Zahl an Umsteigern kommen kann, sind jedoch Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit im Bahnbetrieb. Nach Zuggattungen getrennte Zulaufgleise im Ballungsraum hin zu einem leistungsstarken taktfahrplanfähigen Hauptbahnhof sind ihrerseits dafür die Voraussetzung.